Funktioniert Musikfernsehen im Jahr 2020 noch?

Es könnte! Wäre da nur nicht der teils fehlende Mut der Programmverantwortlichen. Ich habe die drei Player im deutschsprachigen Raum unter die Lupe genommen.
Wie schlägt sich das Musikfernsehen 2020? Ich bin der Meinung, da ist noch Luft nach oben.

Nächstes Jahr wird MTV und somit auch das Konzept Musikfernsehen als solches stolze 40 Jahre alt. Eine jahrelange Erfolgsgeschichte, welche in den vergangenen 15 Jahren durch das Aufkommen von YouTube und co. ins Schwanken geriet. Während im klassischen Fernsehen noch mit Liveshows und Information gepunktet werden kann, dümpelt das Musikfernsehen auf den hinteren Sendeplätzen herum. Dabei hätte es grosses Potenzial.

Doch wie viele Musikfernsehprogramme gibt es anno 2020 überhaupt noch? Im deutschsprachigen Raum sind MTV, Deluxe Music und gotv mit länderübergreifender Bekanntheit verblieben, Schlager- und Volksmusiksender ausgenommen. Drei Sender mit dem so ziemlich selben Zielpublikum, einem fast identischen Musikmix und den selben Macken.

Diversität? Fehlanzeige!

Ich nutze das Musikfernsehen am liebsten als Entdeckungsplattform. Neue Bands und Künstler kennenlernen und sich dabei nicht nur auditiv, sondern auch visuell ein Bild machen. So stösst man auch mal auf Musik, die vom Streaming-Algorithmus komplett ignoriert wird und mir wohl im Leben nie in die Empfehlungen purzeln würde. Dabei habe ich die Rechnung aber nicht mit den Programmchefs der Sender gemacht. Vielseitigkeit kennen die nämlich kaum mehr – und es wird gefühlt von Jahr zu Jahr schlimmer. Es wirkt, als würde man sich bei der Auswahl bloss an den letzten zehn BRAVO-Hits-CDs orientieren.

Kapitulation vor YouTube

Wer einen Fernsehsender mit Leidenschaft betreibt, der will am Puls der Zeit sein. Die Premieren der Musikvideos werden zwar mittlerweile auf YouTube abgehalten, trotzdem könnte man die noch lauwarmen Videos in einer wöchentlichen Sendung servieren. Was machen die Sender stattdessen? Sie betreiben Etikettenschwindel. Sendungen mit Titelfragmenten wie «Neu» oder «Update» werden mit wochen- teils monatealten Videos gefüllt und als «brandneu» beworben. Clips, die auf YouTube bereits mehrere hunderttausend Views oder mehr haben. Es fühlt sich an wie eine Kapitulation vor YouTube und dem Internet. Deluxe Music zeigt jede Woche die Sendung «Update Deluxe». Die Moderatorin Jennifer Weist behauptet zwar, sie hätte die neuesten News und Musikvideos im Angebot. In Wahrheit wird die Sendung einige Wochen vorher aufgezeichnet.

Wie wäre es mit Eigenproduktionen?

Selber produzierte Sendungen kosten Geld und sind zeitintensiv. 2020 sind moderierte Shows im Musikfernsehen Mangelware. Und wenn, dann sind sie voraufgezeichnet und können daher nicht auf Aktualität setzen.

Die Zeiten, in denen Bands und Künstler ihre Musik in Fernsehshows präsentierten, sind beinahe vorbei. Trotzdem könnte man Newcomer in Eigenproduktionen auf eine internationale Bühne stellen. Stichwort Nachwuchsförderung. Auch hier hinken die Sender hinterher. Während im Internet Channels wie «COLORS» den neuen Artists eine Plattform mit Hochglanzcharakter bieten, schaut man bei den drei grossen TV-Playern in die Röhre. Ein spezielles Gefäss für hiesige Newcomer gibt es bei keinem der Sender.

Livemusik erlebt man natürlich am besten dort wo sie entsteht: Vor der Bühne mit zig anderen Musikbegeisterten. Trotzdem gehören Konzerte in ein gutes Musiksenderportfolio. Hier ist Deluxe Music mit seinen Sessions als einziger aktiv und produziert in unregelmässigen Abständen mit vorwiegend nationalen Künstlern Akustiksessions.

Ein grosses Lob gebührt Markus Kavka und dem Format «Kavka Deluxe». In der wöchentlichen Sendung (leider ebenfalls voraufgezeichnet) stellt das wandelnde Musiklexikon drei Musikvideos zu einem speziellen Thema vor. In der 20-minütigen Sendung erhält man zu jedem Clip spannende Fakten und befindet sich in vertrauter Musikfernseh-Atmosphäre. Aus meiner Sicht ein Format, dass man auf eine Stunde ausdehnen könnte. Es ist nebst dem «Tastemaker» und «Chefsessel» eine der wenigen Sternstunden auf dem sonst eher chartlastigen Deluxe Music.

MTV produziert staffelweise die Hip-Hop-Sendung «Yo! MTV Raps», welche die deutsche Urbanszene zeigen und fördern will. Aufgrund der fehlenden Regelmässigkeit kann in dieser leider kaum auf aktuelle Trends und die kurzlebige Deutschrapwelt eingegangen werden.

Das Urgestein ist zurück

Während sich Deluxe Music wie oben beschrieben vor allen mit dem aktuellen Mainstream beschäftigt, kommt ein alter bekannter wieder auf Trab. MTV haben viele bereits abgeschrieben. Zu viel Realityshows, Musik nur noch als Sekundärprogramm. Diese Zeiten scheinen vorbei zu sein. In den letzten zwei Jahren hat sich dort unter dem neuen Programmverantwortlichen Giovanni Zamai einiges geändert. Der Anteil an Musikvideos ist um ein vielfaches gestiegen und mit Eigenproduktionen und Wochenend-Musikspecials ergänzt worden. Aktuelles Beispiel: Die «Back for good»-Wochen. In den kommenden Tagen laufen auf dem Sender ausschliesslich Musikvideos aus den 1990er und 2000er Jahren. Und zwar 24 Stunden am Tag. Auf alles andere wird gänzlich verzichtet. Dass man im Jahr 2020 solchen Mut beweist, ist erstaunlich und erzeugt bei den Zuschauern bisweilen eine positive Resonanz.

Erste sichtbare Finanzprobleme

Beim österreichischen Musiksender gotv scheint es nicht mehr so gut zu laufen wie noch vor einigen Jahren. Mittlerweile findet man zu verschiedenen Tageszeiten Teleshopping im Programm. Nebenbei hat man auch diverse Sendungen gestrichen, was aus meiner Sicht ein klares Zeichen von Sparzwang ist. Die zwei anderen Sender müssen sich finanziell keine Sorgen machen. MTV gehört noch immer der US-Amerikanischen Viacom-Gruppe und profitiert seit der Einstellung von VIVA als «Einzelkind» in deren Musikfernsehportfolio. Deluxe Music verzeichnet dank der guten Quoten auch im Programm sichtbar gute Werbeeinnahmen und kann sogar Sendegefässe vermarkten.

Fazit: Mehr Mut

Musikfernsehen ist noch nicht tot. Vielleicht erlebt es unter den Nostalgikern sogar ein Revival. Wer überleben will, der braucht Mut und klare Entscheidungen. Will man als Sender in Zeiten von YouTube wirklich noch die junge Generation mit Plastik-Pop und Charthits abholen? Wäre es nicht vielleicht sinnvoller, den Musikliebhabern ein Programm mit Newcomern und Musik abseits der Top 100 zu bieten oder gleich auf der Nostalgie-Schiene die gute alte Zeit wieder aufleben zu lassen?

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